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Fast leere Kirchen

Eine Replik auf den Artikel „Wenn die Kirchen fast leer sind“ aus der Sonntag in Freiburg vom 29.7.2018

Der Redakteur Toni Nachbar wollte mit seinem Artikel der Frage nachgehen, was die massiven Kirchenaustritte für eine säkulare Gesellschaft bedeuten, die in 2017 wieder besonders umfangreich ausgefallen sind, wie beispielsweise der Humanistische Pressedienst berichtet. Er begeht dabei jedoch einen grundlegenden journalistischen Fehler, indem er ausschließlich Vertreter der Kirchen und kirchennaher Organisationen zu Wort kommen lässt. Dabei ist doch völlig klar , dass diejenigen Institutionen, von denen sich die Menschen in Scharen abwenden, eine ganz einseitige und subjektive Sicht auf die Dingen haben und Ursachen und Folgen nur aus ihrer eigenen Perspektive bewerten. Keiner wird ernsthaft erwarten, dass Kirchen Verständnis für die Entscheidung ihrer Exmitglieder zeigen und sich objektiv mit deren Gründen auseinandersetzen. Das zeigt sich schon an so kruden Thesen in dem Artikel, laut denen die heutige Wertschätzung für Menschenwürde und Menschenrechte „trotz Aufklärung und erfolgreicher bürgerlicher Revolution“ auf christlichen Traditionen basiere. Richtig ist aber vielmehr, dass gerade die Aufklärung und humanistische Strömungen zum Teil gegen den erbitterten Widerstand der Kirchen Menschen-, Freiheits- und Bürgerrechte erstreiten mussten. Insofern könnte man den Artikel nun einfach als journalistisch wertlos beiseite legen. Doch gerade die Tatsache, dass hier nur über bereits ausgetretene oder austrittswillige Menschen gesprochen wird anstatt deren Perspektive mit einzubeziehen, lädt zum Widerspruch ein.

Denn die Kirchen zeichnen nicht zuletzt ein Zerrbild über die Folgen der Austrittsbewegung und versuchen gleichzeitig die Menschen in ein schlechtes Licht zu rücken, wenn beispielsweise Dekan Engelhardt in dem Artikel verlauten lässt:“Wir erleben bereits eine Verrohung der öffentlichen Debatte“. Diese Verrohung ist zwar durchaus zu sehen. Es ist aber falsch, die Ursachen hier in einer Abwendung vom Christentum anzusiedeln. In der Flüchtlingsfrage beispielsweise müssen wir erleben, dass quer durch Europa und leider auch in Deutschland die politische Rechte ganz bewusst unter Bezugnahme auf den Schutz und die Stärkung des Christentums permanent Stimmung gegen Menschen macht, die sich in einer Notlage befinden oder gar im wahrsten Sinne des Wortes kurz vor dem Ertrinken stehen. Ob Orbán in Ungarn, Kurz in Österreich oder Seehofer bzw. Gauland in Deutschland, sie alle missachten nicht nur die Menschenrechte, sondern schüren Hass und Angst insbesondere gegenüber Mitgliedern anderer religiöser Gruppen und lassen keinerlei Mitgefühl mehr mit Menschen in Not erkennen. In der Tat erleben wir gerade in den sozialen Medien eine Verrohung und hier tobt ein Mob, der sich vor Wut überschlägt und vor keiner gedanklichen Grausamkeit mehr Halt zu machen scheint. Doch diese Wutbürger speisen sich nicht zuletzt auch aus der Auseinandersetzung zwischen Christentum und Islam. Damit sage ich explizit nicht, dass die von Engelhardt angesprochene Verrohung auf das Verhalten von Christen zurückzuführen ist, aber es ist genauso unsinnig, diese auf Menschen zu projizieren , nur weil sie keine Christen sind. Vielmehr müssen wir davon ausgehen, dass die Verrohung ganz andere Ursachen als die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Weltanschauung hat und sofern ist es unredlich, mit dem Finger auf diejenigen zu zeigen, die nicht mehr einer Kirche angehören.

Verschweigen sollte man in solch einem Artikel auch nicht, dass es viele gute Gründe gibt, aus einer Kirche auszutreten, gerade wenn einem die Bürgerrechte am Herzen liegen. Man denke nur an die verbalen Entgleisungen von Papst Franziskus, der  jüngst die schwierige Entscheidung einer Abtreibung mit Nazimethoden gleichsetzte und homosexuellen Paaren die Daseinsberechtigung als Familie absprach (SZ vom 16.6.2018) oder früher bereits das Schlagen von Kindern legitimierte (Welt vom 6.2.15). Wenn schon das Oberhaupt einer Kirche mit heute bei uns anerkannten Menschenrechten auf Kriegsfuß steht, dann ist gerade die Wertschätzung dieser Rechte ein Austrittsgrund, zumal die Liste der Verfehlungen seitens der Kirche sich nicht auf einen Papst beschränkt, sondern bereits ganze Bücher füllt.

In diesem Artikel hätte auch die Frage beleuchtet werden sollen, ob nicht vielleicht der Wunsch nach einem eigenverantwortlichen und selbstbestimmten Leben Ursache für einen Austritt sein könnte. Durch die Jahrhunderte hinweg haben sich weltliche Fürsten und kirchlicher Klerus die Herrschaft über die Menschen geteilt. Heute aber leben wir in einer Zeit der Demokratie, in der die Bürgerinnen und Bürger sich selbst informieren und anhand eigener Überlegungen Entscheidungen treffen können, ohne dass sie dafür eine autoritäre Instanz bräuchten, die ihnen sagt, wo es langgeht. Hier sollte man so ehrlich sein und bereit sein zu fragen, ob die Institution Kirche an dieser Stelle tatsächlich vonnöten ist. Vergessen werden sollte auch nicht, dass finanzielle Fragen manchen Unmut hervorrufen. Erinnert sei nur an die Affäre um den Limburger Bischof Tebartz van Elst, der trotz seiner Prunksucht und massiven Verschleuderung von Steuergeldern fröhlich im Schoß des Vatikans aufgenommen wurde (Welt 9.5.2016), was nicht gerade mit dem Gerechtigkeitsempfinden unserer Zeit korreliert, zumal solche Vergehen außerhalb der Kirche eher in einer Kündigung anstatt in wohlmeinender Versetzung bei vollen Bezügen münden.

Ganz grundsätzlich hätte der Autor auch darauf abzielen können, dass für viele Menschen „Gott“ einfach nur eine von vielen gedanklichen Erfindungen des Menschen ist und die dazugehörigen fiktiven Geschichten aus der Bibel den gleichen Stellenwert besitzen wie beispielsweise Erzählungen aus der griechischen Mythologie. Man mag ja durchaus der Bibel eine literarisch-historische Bedeutung zugestehen, ohne sie aber im Rahmen einer kritischen Betrachtung als Leitfaden für die eigene Lebensweise zu nehmen. Heutzutage gibt es eine vollständig neue Sichtweise auf ein ethisches Leben, als diejenige der Hirtenvölker vor rund 2000 Jahren, die die Bibel erfunden haben. Wir haben beispielsweise ein Grundgesetz in diesem Land oder eine Menschrechtscharta der EU oder die allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen. Diese großartigen Werke, die Lichtjahre von den Betrachtungen religiöser Schriften entfernt sind, sind heute für viele Menschen ein Leitfaden für ein „gutes“ Leben geworden und ersetzen manche archaische Vorstellung. Insofern wäre es unfair, Menschen ohne Glauben vorzuhalten, sie seien nicht zu einem „guten“ Leben fähig. Es gibt vielmehr sogar gute Argumente, das glatte Gegenteil anzunehmen und eher zu dem Schluss zu gelangen, dass Menschen auch „trotz“ Glaubens ein gutes Leben führen können.

All das und noch viel mehr hätte der Journalist erfahren können, wenn er einmal auch die Perspektive von ausgetretenen Menschen berücksichtigt oder mit Vertretern der säkularen Organisationen gesprochen hätte. Doch offensichtlich ist die Macht der Kirchen immer noch groß genug, als dass nur sie ihre Sicht der Dinge darstellen dürfen. Vielleicht ändert sich das, wenn bald nicht einmal mehr die Hälfte der Gesellschaft einer Religionsgemeinschaft angehört.

 

 
Beitragsbild: © Vincent Eisfeldvincent-eisfeld.de / CC BY-SA 4.0, Stiftskirche St. Servatius Quedlinburg by Vincent Eisfeld, CC BY-SA 4.0

3 Responses
  • ptie
    6. August, 2018

    Hallo,

    in der Tat ärgerlich wenn zu einem solchen Thema nur Kirchenvertreter befragt werden.

    Dekan Markus Engelhardt erinnert an einen Befund des prominenten Staatsrechtlers
    Ernst-Wolfgang Böckenförde: „Unsere freiheitliche Verfassung basiert auf Grundlagen, die sie selbst nicht garantieren kann.“

    Dazu aus der Wikipedia:
    Böckenförde antwortet 2009 und 2010 in zwei Interviews auf die Kritik, er würde die ethische Kraft der Religion überbetonen: „Diese Kritik übersieht den Kontext, in dem ich 1964 diesen Satz formuliert habe. Ich versuchte damals vor allem den Katholiken die Entstehung des säkularisierten, das heißt weltlichen, also nicht mehr religiösen Staates zu erklären und ihre Skepsis ihm gegenüber abzubauen. Das war also noch vor 1965, als am Ende des Zweiten Vatikanischen Konzils die katholische Kirche erstmals die Religionsfreiheit voll anerkannte. In diese Skepsis hinein forderte ich die Katholiken auf, diesen Staat zu akzeptieren und sich in ihn einzubringen, unter anderem mit dem Argument, dass der Staat auf ihre ethische Prägekraft angewiesen ist.“ [https://de.wikipedia.org/wiki/B%C3%B6ckenf%C3%B6rde-Diktum]

    Ein Satz, mit dem Beckenförde die Skepsis der Kirche, gegenüber säkularen Gesellschaft, zu mindern versuchte, wird nun von den Kirchen konsequent so gedeutet, als ob gerade die Kirchen die (moralischen) Grundlagen des Staates sichern müssten. Dieses Voraussetzungen werden an ganz vielen Stellen der Gesellschaft gebildet. In Zeitungen, Sportvereinen, Schulen, Familien, Parteien, Gewerkschaften, Vereinen, Bürgerinitiativen – und eben auch Kirchen.
    Mit ihrer Deutung des Beckenförder-Diktums maßt sich die Kirche eine viel zu große Bedeutung bei.

  • deradmiral
    6. August, 2018

    Bis jetzt hat doch Tony Nachbar hauptsächlich Fussball kommentiert, wenn ich mich nicht irre. Gute Kritik! Weiter so!

    Ich habe den Artikel wurde auf AMB verlinkt: https://www.saschafiek.de/2018/07/29/fast-leere-kirchen/

  • Man Glaubt Es Nicht!
    8. August, 2018

    Sehr guter Artikel, danke.

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